03102019 | Von Eiern & Flucht

1980. Wunschkind.
Zwischen 2 Nationen.
Geboren in Ungarn.
Aufgewachsen in der GDR.
Und ein Flüchtling.

Wer hätte es gedacht.

SL-Kindheit

Die Mauer ist heute am 03102019 formal starke 30 Jahre ad acta.
Penibel gesehen, ist sie schon vorher gebröckelt und es hat noch eine Weile gedauert, bis die letzten Mauerstücke zum Heldentum ausgestellt wurden.

Ich mittendrin.
& eingebrannte Fragmente weiß ich noch wie heute.
Keine Angst, es kommt keine Story á la ‚Oh wie schwer hatten wir es‘.

Nein. Meine Geschichte hat Eier.
So dicke Eier, dass ich froh bin, alles so erlebt zu haben.

Ich war 9 Jahre, hatte einen wirklich niedlichen kleinen Bruder, eine beste Freundin & ein wundervolles Zuhause.
Wir lebten in Potsdam und ich wurde nicht Regimetroy erzogen.
Was zur Folge hatte, das ich keine Pionierfreunde hatte, am morgendlichen Appell keine Hand auf den Kopf drückte, Kastanien nur fürs Basteln sammelte & an Fahrten zu den sozialistischen Freunden nicht teilnehmen durfte.

War sehr OK. Denn ich habe von klein auf gelernt, dass ein freier Wille die wirkliche Freiheit ist. Leider war in der DDR der Wille nicht frei.

& so war ich immun gegen das Schönreden, das Nachhaken, das Überzeugen.
Nicht weil ich mit 9 Jahren so stark war.

Nein. Weil es meine Eltern waren.
Es gab keine Infrage stellen. Es war einfach so. Wir waren gegen das Regime. Freidenker.
& es gab viele Momente, an denen ich geahnt habe, dass wir als Familie dadurch nicht 100 % sicher waren.

Wir hatten Nachbarn, die uns bespitzelt haben, eine Lehrerin, die mich versuchte auszuhorchen und Situationen die von ‚Achtung‘ geprägt waren.

Aber wir hatten auch immer Freunde, bei denen meine Eltern sich sicher fühlten, keine Angst hatten. Räume an denen über Probleme gesprochen wurde und das sicher im Klartext.

Ich als Kind, hatte Spielzeug aus dem Westen, Kleidung aus den Niederlanden und ein offenen Zuhause.
Bei uns war immer volles Haus. Und das war wundervoll.

&, wenn ich meinen Bauch nach den schönsten Kindheitserinnerungen befrage, so sind das:

❥ Mit den riesengroßen Kopfhörern von Papa Jörg vor seinem Plattenspieler sitzen und ‚Der Traumzauberbaum‘ hören.
❥ Mama in der Küche beim Vorbereiten zuschauen und auf der Bank sitzen.
❥ Bei Mama im Schlafzimmer schlafen.
❥ Auf der zerzausten Lehne des Ledersessels im Herrenzimmer sitzen und Mamas Haare stundenlang kämmen und dabei Westfernsehen glotzen.
❥ Mit Oma in der Küche schnippeln oder mit dem Quirl die Mehlschwitze rühren.
❥ Opa zusehen, wie er meine Brötchen über der Gasflamme am Herd warm macht.
❥ Einfach neben der Nähmaschine stehen und Mama zusehen, wie sie zaubert.
❥ Im Garten helfen und Opas Kittel anziehen.
❥ Auf dem Eierberg mit allen Freunden ein Picknick genießen.
❥ Am Krampnitz See baden & sogar schwimmen lernen.
Das würde so weitergehen.
_

Papa Jörg ist eines Tages in den Westen. Zu Besuch bei Tantchen.
& für mich war das so weit nichts Besonderes.

Aber er kam nicht zurück.
Erst 1 Tag. Dann 2. Dann 3. Wochen.
Nun war es besonders.

Er war geflüchtet.
Aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt mit meinen kleinen 9 Jahren noch nicht.
Er war vorausgegangen und erst als erwachsene Frau habe ich kapiert, dass es von beiden der Plan war.

Am Anfang habe ich jeden Tag gewartet. Ich saß dann auf dem Sofa, an dem weißen Panteon-Ära Tisch, darunter ein Flokatiteppich und wartete.
Meine Mom meinte, dass ich wohl am Anfang sogar noch Kaffee gemacht habe.

Klingt schwer nicht?
Fühlt sich auch grade sehr traurig an, denn er war ja mein Papa, der mich wie sein eigenes Kind großzog.

Irgendwann wurde mir erklärt, dass er nicht mehr wiederkommt und ich erinnere mich leider nicht mehr an meine Reaktion.
Was ich aber weiß ist, dass meine Mama, Oma & Opa und Freunde, dafür gesorgt haben, dass wir weiterhin ein sorgenfreies familiäres Leben hatten.

Warum ich so aushole?
Weil spätestens jetzt klar ist, dass meine Eltern echt Eier bewiesen haben.
Sie hatten also den Plan in den Westen zu gehen. Sie nahmen eine Trennung mit ungewissem Ausgang in Kauf.

Auf Zusammenführung wurde plädiert und einer Ausreise natürlich nicht zugestimmt. Dafür wurde die Stasi Akte meiner Eltern dicker und dicker.
Ein Buch könnte man schreiben.

& dann kam ein Septembertag.
Mein Flüchtlingstag.
Der Tag, an dem ich meine Kindheit in Potsdam hab liegen lassen müssen.

Getrödelt soll ich haben. Auf dem Heimweg von der Schule & Mama war wohl sehr aufgeregt. Klar, heute war eine Flucht geplant.
Und das Kind kommt nicht. 

Zu Hause angekommen, erklärte mir meine Mama in aller Ruhe und sehr knappen Sätzen, dass wir heute unser Zuhause verlassen.
In einer Sprache die ich mit 9 Jahren verstand. Für die letzte Nacht vor der Flucht hatten wir uns einen Trabi von ihrem besten Freund Mario ausgeliehen und ich durfte mir nun etwas mitnehmen, an dem ich hing.

Kati. Meine Puppe. Janz kla!
Die hat so schön die Augen auf-und-zu gemacht. So Klimperaugen.
Meinem Bruder hat meine Mama sein ganzes Playmobil aus dem goldenen Westen eingepackt, so das er später beim Laufen fast hintenüber viel.
Das sah sehr witzig aus.

Unten am Trabi angekommen, habe ich kurz vorm Einsteigen innehalten.

Dürer Straße 1. Potsdam
240 qm Leben.
100 % Kindheit.
Gegenüber Russenkasernen.
Überall Nachbarn, die bei der Stasi waren und sich weder schämten, noch Skrupel hatten. Alles für den eigenen Vorteil.

‚Und wir kommen nieeeeee wieder zurück???‘

Autsch. Das war laut. Oder vielleicht auch nicht.
Auf alle Fälle, hallte es in den Ohren meiner Mama sehr laut nach und ich weiß noch, wie angsterfüllt sie kurz um sich geschaut hat.
Weiter.
Denn sie hat Eier.

Bruder eingepackt und ab zu meinen Großeltern.
In der Nacht hatte das Abendgebet, was ich früher immer bei meinen Granny’s beten musste, etwas seltsames an sich.
Oma kümmerte sich um uns und ich erinnere mich daran, dass mein Opa und Mama sehr viel gesprochen haben.
Lange und viel. Leise vor allem. 
Vielleicht habe ich die Dinge auch so wahrgenommen, weil alles so angespannt war.

Es hätte für immer das letzte Mal sein können. Das Reden und das Sehen.
Das Umarmen. Alles.

Ich muss grade was einwerfen.
Mein Bruder war ein Wunschbruder.
2 Wunschkinder.
Wie bei mir heute. Jetzt lache ich. Ist das nicht schön??!


Aber wie flüchtet man?
Im Versteck eines Kleintransporters oder über die Spree?
Mit zwei Kindern, einer Puppe namens Kati, einem Rucksack voller Playmobil &  Angst im Nacken?

Ich sags euch.
Mit Eiern im Gepäck & Willen.
Mit einer fast beängstigenden gezeigten Selbstsicherheit, dass es klappen MUSS.
Man fliegt mit genügend Sommersachen in den Urlaub.
Nach Ungarn. In mein Geburtsland.
Man plant offiziell einen Urlaub, damit die Tochter ihre Wurzeln nicht verliert und kehrt nicht mehr zurück. 
Gefahren? Kann ich nicht aufzählen. Gab es zu viele.

Andere flüchteten über die sogenannte 'Grüne Grenze'.
Ein inoffizieller Korridor durch die Natur, der es Bürgern der DDR möglich machte, wenn auch nicht ohne Gefahr auszureisen und über Umwege in den Westen zu gelangen.

Ich sagte ja, sie hat Eier.

Am Flughafen hat meine Mom noch die letzten Devisen auf den Kopf gehauen und ich weiß noch, dass ich einen Pin mit dem Gesicht von Michail Gorbatschow bekommen habe.
gorbi
Bezeichnend und bizarre.
Auch meine Kleidung habe ich noch vor mir. Eine Latzhose aus einem melierten Jeansstoff. Der Flug ist dagegen wie gelöscht aus meinem Kopf.

Meine Erinnerungen starten wieder in der Deutschen Botschaft der BRD in Budapest. Hunderte Menschen.
Alle sitzen auf dem Rasen. Kinder weinen mal, aber insgesamt ist es eine hoffnungsvolle Stimmung.
Meine Mama erschien mir klar.
Sie hatte das Ziel fast erreicht.
Auch wenn für mich war noch nicht absehbar bar, wann die Reise dem Ankommen weichen würde.

Denn klar war.
Zurück ging kein Weg mehr.
Die Konsequenz wäre das Kinderheim für uns Kinder gewesen und der Knast für die Landesverräterin.
Kein schöner Gedanke und ein harter Preis für den freien Willen.

Gefühlt dauerte es eine Ewigkeit in der Botschaft, aber auf einmal wurden Busse bereitgestellt.
Menschen wurden auf diese verteilt und auch wir stiegen ein.
Meine Mama saß im Gang. Es gab keinen Platz mehr und sie wollte, dass wir Kinder auf den Bussesseln sitzen. Sicher sind.

Cut. Pause.

Die Erste. Im Westen. Auf Westboden.
Es regnet in strömen. Ich war aufgeregt.
Alle sind raus und der Busfahrer öffnete die Gepäcktüren, damit sich alle darunter stellen konnten.
Da standen wir nun alle.
Mama, mein kleiner Bruder, viele fremde Menschen und ich.
Mit einem Brot in der Hand.

Einer Art Pumpernickel Brot.
& darauf war Leberwurst.
Kein Zuckerschlecken für meine Mama, denn sie bekommt bis heute Puten pelle beim Gedanken an Leberwurst.
Ist so ein Kindheitsding. Das hab ich mit Blutwurst.
Find ich gaaaaanz schrecklich.

Aber wir aßen.
Nein, eigentlich habe ich alles in mich reingestopft, denn ich fand es toll.
Beim Blick in den Himmel weinte meine Mama.
Sicher aus Kummer, Angst, Erleichterung und weil sie an einen Satz dachte, den ihr bester Freund zum Abschied gesagt hatte.

Inge, wenn du im Westen ankommst, weint der Himmel.

So war es auch.
Wir waren geflüchtet.
Aßen unter weinendem Himmel Pumpernickel Brot mit dick geschmierter Leberwurst.

& das Glücklichsein kam langsam.
__

Was macht meine Flucht aus einer Diktatur so besonders?

Zu keiner Zeit war meine Angst größer, als mein Vertrauen.
Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter uns allein lässt.
Zu jeder Zeit haben sich Menschen sehr liebevoll um uns gekümmert.
Zu jeder Zeit hatte ich die Gewissheit, das ich beschützt werde.

Ich war kleine 9 Jahre und ein Flüchtlingskind.
Es waren nur 800 Kilometer Entfernung zu meiner alten Heimat.
& es war nötig andere Länder, Gefahren, Hindernisse von denen ich nicht einmal ahnte zu überwinden, um dort hinzukommen.

Zu jeder Zeit hatte meine Mama die dicksten Eier dieser Welt.
& ich ab da an wieder meinen Papa Jörg.
__

2019.
Ich habe einen Panteon-Ära Tisch.
Keinen Flokati.
& auf der Flucht bin ich auch nicht.
Vielmehr bin ich angekommen.
Hab meine Kindheit hier gefunden.
Lieb sie sehr.

Meine Eltern haben sich in den 90ern getrennt.
Meine Mama hat ihr Glück verdient wiederbekommen.
Mein Bruder ist immer noch mein Wunschbruder und ich sehr stolz auf ihn.

Wenn ich heute von Mauerfall lese, sind es entweder schreckliche leidvolle Geschehnisse oder das Verharmlosen dieser Zeit.
Egoistisch aber wahr.
Am liebsten ist mir meine Geschichte.
Sicher, weil sie ein Happy End hat.

Denn die Umarmung meiner Großeltern war nicht die Letzte.
Die Sonne schien nach dem Regen wieder.
& das Einstehen für seine Überzeugung wurde belohnt.

Nicht das der Weg für meine Familie danach einfacher wurde, aber er war frei.

Ich musste nicht mehr aufpassen, wem ich was sage.
Wurde nicht mehr ermahnt. Konnte ab sofort einfach zur Jugendlichen heranwachsen.
Meine Eltern konnten sich überall mit all ihren Gedanken frei äußern.
& darum ging es.

Ich schreibe heute von Eiern, Freiheit & Familie.

& ich bitte jeden darum, Eier zu beweisen.
Wann immer es nötig ist.

Für Kinder.
Für Familie.
Für Freunde.
Für Fremde.

Für Menschen.

Weil dann, irgendwann mal eine Frau einen Blogbeitrag über ihre Kindheit oder ein einschneidendes Erlebnis schreiben kann, aber
:
sich zu jeder Zeit sicher gefühlt hat.

Dank euch ALLEN, die ihr Eier bewiesen habt.


Nikkes
 
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9 Kommentare

.. bei uns gibt es auch abends immer den Traumzauberbaum für die Kids…

Ruth

Ich bin ein Wessi. Den Mauerfall habe ich live im Fernsehen verfolgt. Ich war 11 und habe vor Gefühlsflut leise vor mich hin geweint. Offensichtlich habe ich damals schon verstanden, wie wichtig Meinungsfreiheit ist. Ich mag Dein Happy End.

Jana

Hallo Nikolett
Fein geschrieben. Dank dir, dass wir an deiner Geschichte teilhaben dürfen.
Prima, dass deine Mama dir das mit den dicken Eiern beigebracht hat. Hat sie gut gemacht und du auch.

Anke (Pellerine Distelfink)

Liebe Nikkes,

Was eine wahnsinnig berührende Geschichte von Mut und Liebe und Freiheit. Danke, dass Du sie mit uns geteilt hast!
Ich wünsche Dir und Deinen Lieben einen wunderbaren Tag der Deutschen Einheit.
Mit Tränen in den Augen,
AnKi

AnKi

Danke für deine Geschichte, sie hat mich unheimlich berührt. Ich bin im ,,goldenen" Westen aufgewachsen. Nicht mit allem was wir wollten, aber mit allem was wir wirklich brauchten. Und das wichtigste, mit ganz viel Liebe von den Eltern. Wir waren auch Wunschkinder. Heute habe ich oft das Gefühl, Kinder werden nur in die Welt gesetzt als Statussymbol. Die Liebe bleibt oft auf der Strecke

Beate Fuchs

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